Vorwort
Diese Geschichte ist in Gänze fiktiv.
Jahrelange Arbeit führte sie nun hierher. In einen kleinen, fensterlosen Raum. Raum, das ist schon eine Übertreibung. Sie kann ihre Arme nicht bewegen, ihre Beine aufgrund der stetigen Vibration kaum noch spüren. Eingeschlossen, bewegungsunfähig, ihrem Schicksal ausgeliefert. Doch sie lächelt.
Vorausgegangen war diesem Moment eine lange Reise, die schon begann bevor sie zuhause das letzte mal die Tür ins Schloss zog. Sie erinnert sich daran, und wie unwirklich, zugleich aber jeder Akt Teil einer Zeremonie, schien. Das Hinaustreten ins Freie, wie die kühle Luft sie umschwärmte. Das Drehen des Schlüssels, an dessen Ring noch das Plastikkrokodil aus dem Urlaub hängt. Der Blick in den Himmel, an dem der Mond noch stand, bevor sie die Autotür öffnete und sich in den Fahrersitz setzte. Seit ihrer Ankunft wurde sie von Journalisten begleitet. Sie verbrachten die Wochen im selben Camp, zusammen mit ihr und ihren Kollegen. Dort trainierten sie, sprachen über ihr Vorhaben und ließen sich von den Journalisten beraten. Schließlich sollten sie ihre Arbeit selbst dokumentieren, die Weltöffentlichkeit werde sich dafür interessieren.
Sie interessierte sich aber nicht für die Weltöffentlichkeit. Diese hatte ihr nie gut zugestanden, nachdem die Klatschpresse ihr früheres Leben entdeckte. Zahllose Geschichten, teils wahr, teils übertrieben, teils gänzlich erfunden, musste sie in den Tratschblättern und ab und an auch in seriöseren Magazinen lesen – und immer wieder dieselben Fragen: Ja kann sie denn kompetent genug sein, für Ihre Arbeit? Ist sie nun Aushängeschild für einen Lebenswandel oder eher wandelnde Lebensgefahr? Wieso stehe ihr diese Arbeit zu, wo es doch viel verdientere Bürgerinnen und Bürger der Nation gebe, die keine dunkle Vergangenheit vorzuweisen haben? Es wäre eine Untertreibung, ihren Ruf als angeschlagen zu bezeichnen. Aber in den letzten Wochen dachte sie immer weniger daran. Es störte sie nicht mehr, jetzt wo das Ziel zum Greifen nahe ist. Sie hatte hart geschuftet, ihr altes Leben hinter sich zu lassen und ein neues aufzubauen, entgegen aller Widerstände. Sie griff hoch, man könnte sagen so hoch ein Mensch nur greifen kann. Und nun sollte sie dafür belohnt werden, die Früchte ihrer Arbeit ernten.
Das Röhren und Rütteln wird kaum aushaltbar laut, sie muss die Augen schließen und betet, dass alles funktioniert. Ob sie in dieser lauten Umgebung einen Alarm überhaupt wahrnehmen könnte? Bevor sie der Gedanke beunruhigen kann, werden ihre Augen durch einen Ruck aufgerissen. Plötzlich herrscht Stille. Sie hört ihre Atmung. Und die ihrer Kollegen. „Na dann wollen wir mal,“ durchbricht ein Kollege den geradezu meditativen Zustand. Er befreit sich von den Gurten und Bügeln und stößt als erster die Tür auf. Natürliches Licht strömt herein, viel heller als die kleine Lampe über ihren Köpfen. Es lässt die Gestalt ihres Kollegen geradezu ätherisch erscheinen, ehe sie nach unten verschwindet. Die beiden anderen folgen ihm, sie geht als letzte. Sie streckt ihre Arme im Rahmen der Möglichkeiten und holt tief Luft, ehe sie sich bis zur Tür wagt und hinausblickt.
Es dauert einen Moment, bis sich ihre Augen an die Reflektion des Sonnenlichts gewöhnen. Vor ihr erstrecken sich meilenweit Landschaften, die nichts als weißgräulicher Staub, Krater und Hügel zu schein seinen. Und doch könnte der Anblick nicht schöner für sie sein. Jedes Körnchen, jede Form im staubigen Fels, jeder einzelne Krater eine Faszination. Übertroffen wird der Blick nach vorn nur, als sie ihn nach oben wendet. Über ihr schwebt der Blaue Planet, der seinem Namen alle Ehre macht. Ihr wird bewusst, dass jeder Mensch, anwesende Kollegen ausgenommen, den sie je sah, auch wenn nur im Fernsehen, jetzt dort über ihrem Kopf schwebt und vermutlich einem mundanen Alltag nachgeht. Steuererklärung, Bürojob, die Kleinen zur Kita bringen. Lange hält ihr Amusement allerdings nicht. „Bist du hier um zu Arbeiten oder nur zum Glotzen,“ fragt Kollege Nummer eins spöttisch über den Kommunikationskanal. „Arschloch“, antwortet sie, ohne ihr Mikrofon zu aktivieren.
Sie greift die Kiste mit der Kameraausrüstung und schiebt sie vor sich zur Kapsel hinaus. Durch die sanfte Schwerkraft gleitet sie zu Boden, und sie springt hinterher. Ein seltsames Gefühl, aus drei Metern Höhe zu springen und doch so sanft zu landen. Glücklicherweise wurden nach jedem der zahlreichen vergangenen Mondspaziergängen Verbesserungen an den Anzügen und der allgemeinen Ausrüstung gemacht. Mondpioniere können sich verhältnismässig leicht bewegen, wenn man die Anfänge in den sechzigern heranzieht. Sie öffnet die Kiste und bereitet die beiden Kameras vor. Eine für die wissenschaftlichen Fotoaufnahmen, Hauptbestandteil ihrer Mission. Und eine, um die sonst so geheimen Expeditionen dokumentarisch zu begleiten. Stress hatte sie keinen. Ihr wurde für die Dauer der Mission nur die Dokumentation eines spezifischen Punktes zugewiesen, ihre Kollegen werden wohl deutlich länger brauchen. Nachdem sie beide Kameras an ihrem Ausrüstungsgurt einklinkte, meldet sie sich im Comm-Channel: „Ich bin soweit, mache mich auf den Weg zu Punkt Montag-17.“ „Wer ist ich,“ fragt derselbe Kollege, sie an die Funkdisziplin erinnernd. Doch sie weiß, dass es nur eine Gelegenheit für ihn war, über sie herzuziehen, war sie doch die einzige Frau im Team: „Du weißt wer ich bin.“
Langsam marschiert sie los, gen des Markers auf ihrem HUD. Das moderne integrierte Display bildet einen willkommenen Kontrast zu anderer Ausrüstung, wie der Leine die sie hinter sich herzieht. Eine Versicherung, dass die Pioniere sich nicht verlaufen oder durch Fehlbedienungen oder sonstigem Fehlverhalten ins All katapultieren können. Dreihundert Meter davon muss sie mit sich schleppen, für Luftlinie 237m. Das reicht mit den Ungenauigkeiten geradeso, soll die Leine doch keinesfalls gespannt werden. Der Marker auf dem HUD verschwindet, als sie die 10m-Marke erreicht. Stattdessen hebt das Display nun die zu untersuchenden Orte vor und empfiehlt Winkel, aus denen die Aufnahmen zu erstellen sind. Jahrelanges Missionstraining dafür, dass die Technik ihr nun sagt, wie man ein Foto macht. Ein Grinsen treibt ihr der Gedanke ins Gesicht, doch der soll sie nicht davon abhalten, ihre Arbeit professionell und mit höchster Sorgfalt auszuführen. Schnappschuss für Schnappschus, dank allfähiger Mikroelektronik auch mehrere aus verschiedenen Winkeln, mit unterschiedlichen Beleuchtungszeiten et cetera pp. Wieder entdeckt sie die Faszination für die Formen der Landschaft und der einzelnen Felsen, Kanten und Krater. Ohne Tiere, die hier leben und ohne Regen, der sie erodiert, sind die Formen selbst eine Aufzeichnung der Historie des Mondes.
Nachdem der letzte Marker verschwunden ist, genießt sie noch eine Weile die Einsamkeit. Sie befindet sich in einem kleinen Krater, die Kollegen kann sie nicht sehen. Sie steht einfach da und schaut hinauf, zur Erde. Sie ist so weit wie möglich von allen Menschen entfernt. Kaum ein Mensch war je weiter weg von zuhause. Und doch fühlt sie sich trotzdem, oder gerade deswegen, wohl hier. Doch ihre Arbeit war getan, die Zeit zum Heimflug nur noch eine Frage von Minuten. Ein Seufzer, ehe sie sich meldet: „Ich bin hier fertig und komme zurück.“ Keine Antwort. Sie wiederholt die Meldung, diesmal mit ihrem Namen und einem Augenrollen. Doch erneut bleibt die Antwort aus. Nachdem sie die Leine adjustierte, um sie auf dem Rückweg auch wieder aufrollen zu können, macht sie sich auf den Weg aus dem Tal. Trotz der geringeren Schwerkaft ist der Aufstieg recht beschwerlich, obgleich es nur ein-, zweihundert Meter sind. Die Leine sollte sich automatisch aufrollen, je nachdem wie viel sie wieder zurückging. Doch sie hält inne, als sie bemerkt, dass die Rolle dreht und dreht und dreht, die Leine zieht nicht an. Noch bevor ihr der Ernst der Lage bewusst wird, peitscht das Ende der Leine über den Kamm des Kraters und schlägt in die Rolle. Sie wird von der Wucht zurückgeworfen, wild rudernd dreht sie sich im luftleeren Raum bis ihr Helm als erstes Kontakt zum Boden sucht. Der Rest ihres Körpers dreht sich über sie, ehe auch ihre Füße wieder Boden unter sich fassen. Panisch tastet sie die Einschlagstelle ab. Keine Löcher, keine Risse, keine sichtbare Beschädigung. Aber einen blauen Fleck wird das geben. Aus der Rolle hängt noch das nun aufgerollte Ende der Leine, das eigentlich an der Kapsel sein sollte. Es scheint geschmolzen. „Meine Leine ist gerissen, könnt ihr mich hören?“
Stille.
Nun rasen ihr allerhand Gedanken im Kopf herum. Doch sie hört ihnen nichteinmal zu. Sie muss zurück zur Kapsel, und zwar so schnell sie kann. Auf allen Vieren erklimmt sie nun die Kraterwand, die Vorsicht hinter sich zurücklassend. Diesmal sollte sie gerade den First erreichen, bis sie erneut ihre Haltung verliert, als der Boden plötzlich zittert und die sonstige Stille einem unangehmen Geräusch der Resonanz weicht. Ihre Füße finden jedoch Halt, zumindest kurz, und sie wagt einen Sprung nach oben. Sie konnte nicht einschätzen, wie hoch genau ihre Beine sie katapultieren werden und ob es ausreichte, aus dem Krater zu gelangen. Doch als ihre Augen zum ersten Mal aus ihm hinausblicken können, will sie ihnen nicht trauen. Als sie wieder landet, spürt sie keine Vibration mehr. Über ihrem Kopf schwebt nun nicht mehr nur die Erde, sondern auch eine Kapsel. Ihre Kapsel, auf dem Weg zurück nach Hause.
Sie stolpert zurück zur Landestelle, doch kann sie nur noch die Spuren der Kapsel und zahlreiche Fußspuren in direkter Umgebung dieser sehen. Dazu einige hastig zurückgelassene Gegenstände, die meisten davon high-tech Verpackungsmüll. Ungläubig steht sie in deren Mitte und schüttelt den Kopf. Kurz herrscht absolute Stille. Dann aber dringen Stimmen in ihren Kopf. Die Stimmen von Reporterinnen und Reportern, die sie wegen ihrer Vergangenheit in der Luft zerreißen. Und dieselben Stimmen, wie sie nun vom tragischen, aber erwartbaren, tödlichen Fehlschlag dieser Skandalpionierin berichten werden. Vermutlich dreht die Medienmaschine sich bereits, während sie nichts dagegen unternehmen kann. Sie verliert nicht nur ihr Leben, nein, ihr Tod wird ihr auch noch genommen. Ihr Andenken besudelt. Sie schreit. Sie kann nicht anders. Sie schreit so laut es ihr möglich ist. Und in jedem Moment, in dem sie Luft holen muss, ergreift sie sofort die absolute Stille. Sie schreit, bis sie erschöpft zu Boden fällt. Zeit vergeht, schwer zu sagen wie viel. Sie weiß, dass ihr Anzug sie für etwa eine Erdstunde mit Sauerstoff und Wärme versorgen kann. Doch wie viel bleibt ihr davon noch? Sie will es gar nicht wissen. Sie setzt sich auf und legt sich wieder hin, diesmal aber mit dem Blick gen Erde. Sie holt tief Luft. Dieser wunderschöne Planet mit all seinen Wundern und der Vielfalt an Leben. Ein weiteres mal atmet sie tief ein und aus und schaut auf diesen wunderschönen Planeten, auf dem die Menschen ihrem Leben nachgehen wie kleine Zahnräder, die gedankenlos in einem Uhrwerk ticken. Dieser wunderschöne Planet, besetzt und zerstört von allerlei ekelhaften Menschen. Bei aller Grausamkeit ihres Todes denkt sie: Wenigstens muss ich nicht dort unten sterben.
Sie schnallt die Leinenspule von sich ab und den Arbeitsgurt dazu, als sie an die Dokumentationskamera erinnert wird. Sie wendet den Kopf zu den zurückgelassenen Gegenständen und grinst, als sie die Kamerakiste sieht. Dorthinein müssen die Speicherchips der Kameras, um der Strahlung auch längerfristig standzuhalten. Eine Gelegenheit, nicht nur ihre Mission doch noch zu erfüllen. Es wird Wochen, vermutlich Monate dauern bis die nächste Expedition startet. Vielleicht ein, zwei Jahre, bis eine in dieser Gegend des Mondes stattfindet. Keiner weiß, wie lange die Daten in der Kiste wirklich erhalten bleiben können. Und dennoch packt sie eine gewisse Energie. Sie bereitet die Kamera vor und fotographiert als allererstes sich selbst, wie sie da im Staub liegt. Ein Mondselfie. Sie grinst. Eine Bildvorschau per Display hat die Kamera nicht, aber sie stellt sich die Gesichter vor, wenn irgendwann die Daten geborgen werden und das erste Dokumentationsbild ihr Anzugvisier, aufgenommen Momente vor ihrem Tod, sein wird. Sie fotographiert als nächstes die Erde, von ihrer Position aus. Danach die Landezone, die mit den gut sichtbaren Spuren und den Space-Verpackungen doch seltsam vertraut an einen Autobahnrastplatz erinnert. Click-Clack. Click- Clack. Click-Clack. Das mechanische Gefühl der Strahlenschutzblende erinnert an alte Analogkameras. Sie streicht über die Mondoberfläche, wenngleich sie sie nicht wirklich spüren kann. Ein paar Steine liegen in ihrer Hand, deren oberfläche porös und blasig wirkt. Fast als wären sie selbst aufsteigende Blasen. Ihr Grinsen weitet sich, als sie die Steine vorsichtig nach oben wirft und mehrere Bilder von ihnen macht, wie sie sich langsam der Mondoberfläche nähern. Als ihr Blick die Steine verfolgt, fällt ihr die Leinenspule auf. Noch immer steht das geschmolzene Ende aus ihr heraus. Click-Clack. Und damit war die Tat dokumentiert, vom Opfer selbst. Ein Piepsen reißt sie aus ihren Gedanken und sie muss die Augen fast verdrehen, um die Warnung am unteren Rand des HUD zu erkennen:
OXYGEN
Sie hat nicht mehr viel Zeit, doch die braucht sie auch nicht mehr. Unbeeindruckt von der Warnung rappelt sie sich auf und bringt die Kameras zu deren Kiste. In aller Seelenruhe notiert sie den Inhalt beider Speicherchips, indem sie Buchstaben in das vorgesehene Feld drückt. Montag-17 schreibt sie auf das Feld der Forschungskamera, das andere beschriftet sie mit: Mein Mord. Zufrieden schaut sie die relativ leere Kiste an. Die Kameras waren in ihrer Vorrichtung und die Speicherchips auch in deren, doch bietet die Kiste Platz für insgesamt zehn solcher Chips. Eine leidliche Erinnerung daran, wie klein und relativ unbedeutend die heutige Mission wohl war. Gedanklich salutiert sie vor der Kiste, die nun das Produkt ihres Lebens enthält. Ihr wahres Andenken. Die Wahrheit, obgleich sie vielleicht nie entdeckt wird. Mehr kann sie nicht tun. So verschließt sie die Kiste sicher und begibt sich zu einer besonders von Mondstaub bedeckten Stelle. Erneut schaut sie hoch zur Erde. Mit einem Lächeln im Gesicht steckt sie Arme und Beine von sich und beginnt, diese hoch und runter, außeinander und wieder zusammen zu bewegen. Einen Mondstaubengel hat zuvor noch kein Mensch gemacht. Doch die Bewegung strengt an, so bleibt sie in ihrem Engel schlicht liegen und atmet ein wenig durch. Das Lächeln bleibt jedoch auf ihrem Gesicht, als sie ihre Augen schließt.