Anarchist Angel's Gedankenwelt

Politik: Kleine Geschichte des Anarchismus in Deutschland

Vorwort

Diese politischen Gedanken spiegeln lediglich die Einstellung zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung und nicht unbedingt aktuelle politische Einstellungen der Autorin wider.


Anarchismus - eine vernachlässigte Ideologie

Einführung

Anarchie im heutigen, umgänglichen Sprachgebrauch bezeichnet oft einen Zustand von Chaos, Unordnung oder gar Gewalt. Doch steht der Begriff eigentlich für einen politischen Zustand einer herrenlosen Ordnung, eine Gesellschaft, in der Menschen gleichberechtigt und ohne Ausbeutung zusammenleben. Statt übereinander in hierarchischen Verhältnissen (vertikal) ist die Gesellschaft horizontal geordnet. Zahlreiche Unterströmungen des Anarchismus behandeln die Frage, wie genau sich eine Gesellschaft ordnen soll, um Machstrukturen und damit laut Anarchist:innen einhergehend Machtmissbrauch zu verhindern. Grund für diese Überlegungen sind seit jeher üblicher Machtmissbrauch durch deren Inhaber, doch erst im 19. Jahrhundert, einhergehend mit massiven Produktions- und Wohlstandssteigerungen, wurden anarchistische Ideen ausformulierter und zugleich populärer. Traditionell basieren anarchistische Ideen auf gemeinwirtschaftlichen und progressiven, also politisch als “links” bezeichneten, Prinzipien wie Solidarität, gesellschaftliche Kohäsion, Kooperation und Frieden.

Exkurs: Anarchokapitalismus

Es existieren aber auch Strömungen des rechtsliberalen Spektrums, die sich den Begriff des Anarchismus aneignen. Dabei sticht insbesondere der kontrovers diskutierte sogenannte Anarchokapitalismus hervor. Zuerst definiert von Murray Rothbard beinhaltet der sog. Anarchokapitalismus besonders zwei Prinzipien: Das alleinige Verfügungsrecht über Privateigentum durch dessen Eigentümer und das Nichtaggressionsprinzip. Ersteres bedeutet, wie in anderen als anarchistisch bezeichneten Strömungen, dass es keinen Staat geben soll, der z.B. über Gesetze, Verordnungen oder Richtlinien die potentielle Verfügung einschränken kann. Auch Steuern, die von Vertretern des Anarchokapitalismus oft als “Raub” bezeichnet werden, Sozialabgaben oder öffentliche Investitionen soll es nicht geben, jedes Individuum ist für sich gestellt und haushaltet mit den eigenen Ressourcen nach eigenem Ermessen. Dies stellt einen direkten Widerspruch zu den anarchistischen Grundprinzipien von Kooperation und Solidarität dar. Auch dass durch freiwillige Zusammenschlüsse weniger aber wohlhabender Menschen ein faktisches Machtgefälle gegenüber weniger wohlhabenden Menschen entsteht und diese dadurch indirekt vereinnahmt oder gar versklavt werden können lassen Anarchokapitalisten außer Acht. Aufgrund dessen wird der Anarchokapitalismus von vielen Anarchisten nicht als “echter” Anarchismus anerkannt. Rothbard selbst betont, Anarchokapitalismus hätte nichts mit Anarchismus gemein.

Pierre-Joseph Proudhon: Der "erste Anarchist"

Als einer der wesentlichsten Mitbegründer der anarchistischen Theorie gilt Pierre-Joseph Proudhon (1809-1865). Dieser veröffentlichte mit seiner Schrift “Qu’est-ce que la propriété,” zu dt. “Was ist das Eigentum,” eine radikale und umfassende Kritik an Eigentums- und Produktionsverhältnissen und den daraus resultierenden Gesellschaftsverhältnissen. Seine praktische Arbeit jedoch wich teilweise von seinen polittheoretischen Idealen ab: Obwohl er Gewalt ablehnte, stellte er sich in den Dienst der franz. Revolution und trotz seiner Ablehnung gegenüber dem Parlamentarismus ließ er sich in die Nationalversammlung wählen. Seine Anträge wurden jedoch fast alle abgelehnt, da sie von anderen Mitgliedern als zu radikal empfunden wurden. Proudhon gründete deshalb, um seine Ansichten dennoch praktisch umzusetzen, eine Tauschbank, eine Warenbörse um den Zwischenhandel (den er als Ausbeutung verachtete) auszuschalten. Trotz deren Erfolg durch den direkten Warenaustausch und das aushändigen zinsloser Kredite konnte sie nicht bestehen, als Proudhon wegen seiner scharfen Kritik am franz. Präsidenten der Republik, Louis Napoleon, zu einer Haftstrafe verurteilt wurde. Als er 1858 erneut verurteilt wurde, floh er nach Belgien und publizierte dort als Journalist. Doch war er aufgrund seiner politischen Einstellung auch in Belgien nicht lange erwünscht und musste 1860 nach Frankreich zurückkehren, wo er einige Jahre später verstarb. Proudhons soziale Anarchismustheorie gilt gemeinhin als die erste vollständige politische Theorie des Anarchismus, doch hat sie auch zahlreiche Kritik auf sich gezogen. Proudhon sieht Machtstrukturen als überwundene Notwendigkeit, und zwischenzeitlich als Hindernis, der Menschheitsentwicklung hin zur Menschlichkeit. Statt eines Staates schlägt Proudhon einen sog. Mutualismus vor, also eine Gesellschaft der gegenseitigen Hilfe. Die Produktion soll in Genossenschaften organisiert sein, Vereinbarungen frei getroffen und vertraglich geregelt werden. Auch wollte Proudhon die Geldwirtschaft durch Tauschhandel substituieren, um eine Wohlstandsakkumulation zu erschweren. Kritik findet sich vor allem an dem wirtschaftlichen Denken Proudhons, da viele gesellschaftliche Fragen nicht direkt auf die wirtschaftlichen Verhältnisse zurückzuführen sind. Außerdem ist Proudhon für eine der anarchistischen Idee konträren Verachtung von Frauen bekannt. Letzteren spricht er rationales Handeln ab, bezeichnete sie stellenweise sogar als Zwischenkreatur zwischen Mensch (=Mann) und Tier.

Anarchismus in der Deutschen Geschichte

Anarchismus ist in Deutschland fest verwurzelt, zahlreiche Anarchisten und Anarchistinnen stammen aus Deutschland oder lebten zumindest zeitweise in deutschen Städten. Die Anarchistische Bewegung entstand aus der Sozialdemokratischen Ende des 19. Jahrhunderts. Die Anarchisten und Anarchistinnen empfanden die sozialdemokratischen Entwürfe für nicht weitgehend genug, da sie die Repressionen und Ausbeutung nur abschwächen, nicht aber beseitigten. Aus dem Widerspruch gegen die Zentralisierung der Gewerkschaften durch die SPD bildeten sich Lokalistengruppen, die ihrerseits einen Verband gründeten: Die Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften (FVdG) Während des ersten Weltkrieges unterstützten die Sozialdemokraten zudem die Kriegspolitik, einzig die Anarchisten und Anarchistinnen verweigerten eine Akzeptanz dieser und verlangten wehement eine Friedenspolitik. Dennoch wurden viele von ihnen zum Kriegsdienst gezwungen, viele Bücher und Publikationen wie z.B. “Der Pionier” oder Schriften von Erich Mühsam wurden verboten. In der Weimarer Republik erlangte die anarchistische Bewegung 1919 ihren vorläufigen Höhepunkt in Deutschland: Mit der Gründung und dem Erfolg der “Freien Arbeiter Union Deutschland” (FAUD) auf dem 27. Kongress der bis dato in der anarchistischen Szene dominanten FVdG waren anarchistische Themen gesellschaftsfähig geworden. Rudolf Rocker verfasste deren Prinzipienblatt, welches einstimmig zum Programm gewählt wurde. Besonders die Methode der direkten Aktion, die bis heute fester Bestandteil anarchistischer Prinzipien und Vereinigungen ist, fand bei vielen Menschen anklang. Statt stets einen offiziellen oder parlamentarischen Weg zu gehen und im Zweifel daran zu scheitern, dass Bürokraten widersprachen, nahmen die Anarchisten ihre Schicksale selbst in die Hand. Sie organisierten Streiks, Suppenküchen etc. unabhängig vom Staat. Ihre Mittel waren nicht auf friedliche beschränkt, so organisierten sie auch Streitkräfte für die sogenannte Rote Ruhrarmee, die 1920 den Kapp-Putsch kontrarevolutionärer/reaktionärer Kräfte bekämpfte und erfolgreich abwendete. Über die Jahre entwickelten sich die anarchistischen Theorien und Forderungen weiter, was allerdings auch zu zahlreichen Spaltungen und Lokalgruppenbildung führte, sodass die FAUD als Dachorganisation zunehmend an Mitgliedern verlor, bis sie 1932 nicht mehr ganz 5000 zählte. Mit der Wahl 1933 und der Machtaneignung der Nationalsozialisten wurden alle anarchistischen Organisationen vebroten und ihre Mitglieder gnadenlos verfolgt. Wer nicht ins Exil flüchten konnte, um zum Beispiel sich der Spanischen CNT/FAI anzuschließen um gegen den Diktator Francisco Franco zu kämpfen, wurde vom Deutschen Regime in Konzentrationslager verschleppt, dort ermordet oder zu Kriegsende in die SS zwangsrekrutiert. In der Zeit der Deutschen Teilung bemühten sich die Überlebenden an die Erfolge der FAUD anzuknüpfen. In Westdeutschland stießen sie damit allerdings auf taube Ohren, herausgebrachte Publikationen fanden keinen Anklang und wurden wieder eingestellt. Erst mit der Studentenbewegung der 60er wurden anarchistische Forderungen wieder populärer, besonders innerhalb der Studentenbewegung, so zum Beispiel gab es anarchistische Flügel im SDS oder in den NSB. Aus diesen Flügeln entstanden eigene Organisationen wie die Föderation Gewaltfreire Aktionsgruppen (FöGA; 1980) oder die Freie Arbeiter Union (FAU; 1977; Selbstverständnis als Nachfolgeorganisation der FAUD). Auch die bis heute erscheinende Publikation “Graswurzelrevolution” fand daraufhin 1980 ihren Ursprung. Sowohl die FöGA (existent bis 1990) und die Graswurzelrevolution lesen aus der anarchistischen Theorie vor allem ein basisdemokratisches, gewaltfreies Politikverständnis und finden damit in linken Kreisen viel Anklang, mussten und müssen sich aber auch der Kritik der “Blauäugigkeit” stellen. Deutsche Verfassungsschutzämter stuften die Zeitung trotz der Gewaltfreiheit als Grundprinzip als “linksextremistisch” ein, da sie andererseits zivilen Ungehorsam wie Sitzblockaden befürwortet. Auch in der DDR gab es anarchistische Bemühungen: Besonders Wilhelm Jelinek, Betriebsratsvorsitzender und Anarchosyndikalist, machte sich 1945 daran ein Netz aus anarchistischen Kontakten in der ganzen DDR und auch über diese hinaus in andere Länder, sogar nach Westdeutschland, zu spannen. Immer wieder trafen sich Anarchisten und Anarchistinnen im Geheimen, um ihre politischen Forderungen auszuarbeiten und Publikationsmöglichkeiten zu erörtern. Bei einem solchen Treffen in Leipzig wurde allerdings der Staatsschutz informiert. Mitarbeiter der Deutschen Volkspolizei und der sowjetischen Geheimpolizei verhafteten alle Teilnehmenden. Jelinek selbst wurde wegen “antisowjetischer Agitation” und “illegaler Gruppenbildung” zu 25 Jahren Haft verurteilt. Er starb 1952, bevor er die Strafe absitzen konnte, unter ungeklärten Umständen in Haft. Seine Genossen vermuten, er wurde aus politischen Gründen vom Staat ermordet. Durch diesen Schlag wurde das anarchistische Netzwerk in der DDR empfindlich getroffen und konnte sich nicht vollständig erholen. Anarchistische Aktivität in der DDR beschränkte sich auf einzelne Publikationen in Form von Flugblättern, hin und wieder auch Kolumnen in Zeitschriften.

September 10, 2022

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