Anarchist Angel's Gedankenwelt

Politik: Die Maske des Rechtsstaats bröckelt

Vorwort

Diese politischen Gedanken spiegeln lediglich die Einstellung zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung und nicht unbedingt aktuelle politische Einstellungen der Autorin wider.


Rechtsstaatlichkeit, das bedeutet vor allem einen fairen Prozess (Recht auf Gehör, Prinzip der Waffengleichheit), die Strafe nur als letztes Mittel - und dann auch der schwere angepasst (Ultima Ratio) und vor allem:

Eine Verurteilung nur durch Beweis der Schuld (In dubio pro reo).

Nun sprach ich schon öfters darüber, dass unser ‘Rechtsstaat’ gar nicht so rechtsstaatlich ist. Zum Beispiel dadurch, dass keine Waffengleichheit existiert, da es in Deutschland keine echte Pflichtverteidigung gibt. Das Gericht muss dem erst zustimmen und selbst dann sind die Kosten im Falle einer Verurteilung oder oft bei Verfahrenseinstellung selbst zu tragen. Es kommt also zu ökonomischen Überlegungen, ob es nicht klüger ist, ein falsches Geständnis abzulegen um eine mildere Strafe zu bekommen und weitere Anwaltskosten einzusparen - wie ich es in meinem Fall auch tat. Das ganze weitet sich nochmal dadurch aus, dass im Falle von Widerspruch gegen Strafbefehle kein Verschlimmerungsverbot existiert. Auch hier also ist es vorrangig eine ökonomische Entscheidung, ob gegen einen Strafbefehl Widerspruch eingelegt wird um die Unschuld zu erstreiten, oder ob die Angst ein noch härteres Urteil abzubekommen und die hohen Verfahrenskosten tragen zu müssen einen Menschen dazu bringen, den Strafbefehl einfach zu akzeptieren - ganz gleich der Schuld.

Diese Fälle sind häufig, aber niedrigen Profils. Die meisten Menschen bekommen davon wenig bis gar nichts mit, bis es sie selbst betrifft. Heute aber schaffte der Staat sich selbst ein Beispiel, über das ausführlich in den Medien berichtet wurde. Ein Beispiel eigener Inkompetenz und der getrosten Ignoranz rechtsstaatlicher Prinzipien: Der Schuldspruch von Lina E.

Vorweg: Glaube ich, dass Lina E. unschuldig ist? Das weiß ich nicht. Und da liegt die Krux der Geschichte: Die von der Bundesanwältin vorgelegten Ermittlungsergebnisse sind inkonklusiv. Es handelt sich um ein Indizienverfahren - Beweise gibt es also nicht. Auch die BA’in gab zu: Eine “Smoking Gun”, die Lina zweifelsohne in Verbindung mit den Taten bringe.. fehle.

Nun werden sicher viele von euch trotzdem von ihrer Schuld überzeugt sein. Aber darum geht es nicht. Uns allen, und insbesondere auch Lina, ist es vermutlich gleich, was Richter:innen, BA’in und Bundesanwaltschaft glauben. De facto können sie ihr keine weitere Tatbeteiligung als eine versuchte Körperverletzung nachweisen.

Verurteilt wurde sie dennoch - zu verhältnismässig drakonischen fünf Jahren und drei Monaten.

Doch das Problem ist größer als nur ein einzelnes willkürlich-politisches Urteil. Denn was in Gänze fehlt, auch in der Berichterstattung, ist die Perspektive. Die Angriffe auf Neonazis, ob sie nun mit oder ohne Lina E. stattfanden, waren Selbsterwehrungsversuche nachdem selbige Neonazis jahrelang Stadtviertel terrorisierten und Unsicherheit verbreiteten. Von rechtsradikalen Kneipen (Betrieben von Leon R.), die du als migrantisch gelesener Mensch oder politisch links erkennbar am besten zwei Straßen umschiffen musst über waschechte Rechtsterroristen zu Ex-NPD Kadern wie Enrico Böhm, der jahrelang ungestört einen antisemitischen und rassistischen Online-Versandhandel betrieb, natürlich mit ordentlich NS-Propaganda. Schon mehrfach wurde dieser wegen verschiedenen Straftaten verurteilt. Insgesamt fast zwei Dutzend Verurteilungen gingen gegen ihn, allerdings stets sehr milde. Begründung vieler Richter:innen: “weitere Straftaten waren nicht zu befürchten”. Darunter waren Nötigung, Körpverletzung, Beleidigung, Diebstahl und natürlich das Verwenden verbotener Kennzeichen, ratet mal welche.

Auch die Neonazis, die April 2018 zwei Journalisten angriffen, kamen glimpflich davon. Sie gingen mit Messer, Pfefferspray und Schraubenschlüssel auf die Journalisten los, nachdem diese über eine Neonazi-Vorversammlung berichten wollten. Die Journalisten flohen im Auto, wurden von den Nazis verfolgt, über mehrere Ortschaften hinweg. Schließlich kamen die Journalisten bei der Verfolgungsjagd von der Straße ab. Die Nazis schlugen die Fensterscheiben ein, sprühten Pfefferspray in das Auto, schlugen und stachen auf die Journalisten ein und stahlen die Kameras.

Das Urteil: 200 Arbeitsstunden für den einen, ein Jahr auf Bewährung für den anderen (der bereits mehrfach wegen Gewaltkriminalität vorbestraft war).

Ganz unbewusst zeigte auch hier der Staat seine rechte Schieflage: in der Urteilsbegründung hieß es, die Strafe sei milder, da die Kammer nicht davon ausgehe, die Nazis hätten bewusst Journalisten angegriffen. Sie bezeichneten die Journalisten als ‘Zecken’, nahmen sie möglicherweise als Linke wahr. Es ist also für den Staat weniger schlimm, Menschen fast zu töten, wenn sie links sind.

Gleichzeitig wird die Repression gegen linke Gruppierungen, Aktivisti und Publizist:innen immer schärfer. Linke Jugendzentren werden gewaltsam weggentrifiziert, Razzien bei freien Radios durchgeführt, wenn sie auch nur an linkes Gedankengut erinnern, überall “kriminelle Vereinigungen” gesehen, die Strukturermittlungen und Massenüberwachung rechtfertigen sollen und selbst Adbuster:innen, die Polizei oder Militär kritisieren, als staatsgefährdende kriminelle Trieben vom Gemeinsamen Terrorabwehrzentrum verfolgt werden.

Schon seit Jahren bröselt also die Illusion eines Rechtsstaates Deutschland. Mit dem Prozess um Lina E. fiel ein weiteres Stück Maske zu Boden. Der Staat zeigt damit, dass Rechtsstaatlichkeit nur ein Vorwand ist, eine Schutzbehauptung über sich selbst um sich der Kritik z.B. durch anarchistische Kollektive und Denker:innen zu erwehren oder sich selbst gegenüber anderen Staaten zu erhöhen. Gemäß dem Motto:

“Wir haben doch wenigstens Prinzipien, die wir über Bord werfen können.”

May 31, 2023

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