Anarchist Angel's Gedankenwelt

Tagebuch: Boxsack

Vorwort

Diese Geschichte ist genau so geschehen.


Mein neuer bester Freund.

Den Tag über brodelte es schon wieder. Aber dafür konnte ich meiner besten Freundin eine Serie mit einem Charakter zeigen, der unglaublich in mir resonierte. Klar, die Rede ist von Vi aus Arcane. Die Serie gefiel ihr nicht so. Und sie sieht die Ähnlichkeit nicht, die sogar Fremden ins Gesicht springt. Nicht mein Tag. Ich bandagiere mir die Pfoten. Zeit ein bisschen zu Boxen. Auspoweren, trainieren und den Kopf freizukriegen. Das erste mal seit ich den neuen Sack habe. Eine Flasche Branntwein dazu, in der Dunkelheit im Schlafzimmer. Allein.

Ich drücke Play auf einer beliebigen Playlist auf YouTube und wende mich dem Boxsack zu. “Playlist that makes you feel like you’re in a movie starring a badass villain”, klingt gut. Ich teile zwei, drei Schläge aus. Meine Form hat gelitten, ich mache einen Schritt zurück und seufze. So würde ich in der nächsten Schlägerei aber dermaßen aufs Maul kriegen. Plötzlich blinzle ich. Nicht nur einmal, sondern ständig. Die Musik verschwimmt im Hintergrund, nur noch der Beat und einzelne Noten dringen wie Schwerter zu mir vor, die mich stechen. Ich zucke im Rhythmus irgendeines Liedes und ich sehe so viel vor mir, trotz geschlossener Augen.

Ich sehe das Schwein, das unsere Nadeln in den Dreck drückte. Ich sehe das Schwein, das mir unschuldig eine Straftat angedichtet hat. Ich sehe den Wichser der mir ein Messer an die Kehle hielt. Ich seh den Freier, der mir die Schultern runterdrückte, dann das Gesicht zur Seite. Und ich sehe meine Straßenschwestern. Ich sehe Wakki. Ich sehe Säm. Ich sehe Platti. Und ich sehe Plattis Leiche. Meine Augen reißen sich auf und ich stürme auf den Boxsack zu. Bam, Bam, Bam.. Patpatpatpatpat. Trotz offener Augen sehe ich nur ihre Bilder vor mir. Ich höre Schreie von Hass und von Verzweiflung. Ich komme kurz außer Atem und höre auf, greife mir die Schnapsflasche und trinke einen kräftigen Schluck. In meine Gedanken schießen folgende: Kämpf für sie - nein, kämpf für dich! Da packt es mich wieder, der Blick auf den Boxsack reicht und wie wild springe ich auf ihn ein. Rechts links, er dreht und windet sich, mittlerweile im 40° Winkel von mir weg versucht er zu fliehen doch ich schlage in der Luft weiter auf ihn ein. Weiter und weiter und weiter und weiter. Ich verliere jedes Zeit- und Körpergefühl.

Dann mache ich drei Schritte zurück. Und lasse mich nach hinten aufs Bett fallen. Noch einen Schluck. Und ich fasse mir an die Kette, die um meinen Hals hängt. Sie ist neu, keine besonderen Erinnerungen oder Sentimentalität damit verbunden. Noch nicht. Sie ist ein Symbol für ein neues ich.

Der Bocksack schwingt noch immer leicht und dreht sich um die Längsachse langsam gegen den Uhrzeigersinn, da fällt mir in der Dunkelheit ein roter Fleck auf. Ich schaue auf meine Hände. Blut läuft an ihnen hinab. Mein Blick fällt auf die Uhr. Eine halbe Stunde lang habe ich ununterbrochen auf den Boxsack eingedroschen. Ich richte meinen Oberkörper auf, im Bett ein großer Schweißfleck. Wieder fasse ich mir an die Kette. Das ist das neue ich? Ein Mundwinkel schießt nach oben, fast fange ich an zu lachen. Ich genehmige mir noch einen Schluck, mache das Laptop aus und gehe zurück an den Computer, um diesen Tagebucheintrag zu schreiben. Die Tastatur muss ich jetzt putzen. Und ein bisschen Desinfektionsmittel wäre auch nicht schlecht, der Schweiß der in die Wunden läuft brennt nämlich wie Hölle. Und nächstes mal wird Faustschoner getragen.

Aber verdammt bin ich grad irgendwie glücklich.

November 30, 2021

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