Anarchist Angel's Gedankenwelt

Tagebuch: Die Essensausgabe

Vorwort

Diese Geschichte ist genau so geschehen.


Heute war ein komischer Tag. Mir ging’s besser als gestern - da gings mir aber auch 0 von 10. Ich war immernoch sehr müde, niedergeschlagen. Wenn es mir körperlich nicht so gut geht, dann wirkt sich das auf mein sensorisches Empfinden aus. Alles ist noch lauter, stickiger, hektischer, greller als sonst eh schon. Das ist die nicht-so-geile Seite von Autismus. Doch ich musste raus, einen Termin bei einer Psychologin wahrnehmen. Über eine Stunde musste ich dafür U-Bahn fahren, die längste U-Bahn Berlins fast von Ende zu Ende. Das tat mir überhaupt nicht gut. Ich erreichte meine Station verschwitzt, mit Schwindel und starken Kopfschmerzen. So äußert sich eine sensorische Überbelastung als erstes. Die frische Luft tat gut, wenngleich der Autolärm meine Ohren klingeln ließ und mir die Orientierung erschwerte.

Zum Glück war das Wartezimmer ruhig. Ich hatte nur ein kurzes Gespräch, denn ich bin nicht in Therapie sondern war wegen einer Formalie dort. Wir sprachen über das letzte Jahr und was mir so passiert war. Sie zeigte sich beeindruckt von meiner Resilienz. Etwas, auf das ich sehr stolz bin. Denn ich musste verdammt viel durchmachen und habe es trotzdem geschafft, immer wieder aufzustehen - sogar mit gebrochener Wirbelsäule ;) Viel davon verdanke ich meinem tollen sozialen Umfeld - online wie offline.

Die Formalie war erfüllt, das Gespräch ganz nett. Mein Freund war im selben Bezirk unterwegs, wir vereinbarten aber ein Treffen am Alexanderplatz. Also wieder U-Bahn. Wieder grelle Lichter, Leute die einen ständig berühren, lautes Rattern und Rauschen. Am Alex angekommen war ich fertig. Ich setzte mich also dorthin, wo wir sonst manchmal schnorren und wartete auf die Ankunft meiner Freunde. Ich hatte zum Glück ein Buch mitgenommen (Mass Effect Ascension) und konnte mich gedanklich darauf konzentrieren/fixieren, sodass ich die Umgebung nicht mehr wahrnahm. Es ist ein sehr spannendes Buch aus meiner lieblings-Videospielserie und- “KRÄÄHE!”

Da standen sie schon und versuchten zum x-ten mal mich anzusprechen. Ups. Ich schrieb ihnen schon, dass ich heute wohl nicht mehr sprechen kann. Sprechen ist für mich ziemlich anstrengend. Ich bin normalerweise gut darin, aber es kostet viel Kraft Worte zu finden, zu arrangieren, ihre Tonalität zu modulieren und die Reaktionen von Gegenübern bewusst durchzugehen ehe sie meinen Mund verlassen. Es ist ein Kraftakt, den ich heute einfach nicht mehr aufbringen konnte. Meine Freund:innen wissen das zum Glück und so war es kein Problem, dass ich hauptsächlich nur nickte, den Kopf schüttelte oder den Daumen hoch oder runter zeigte.

“Gehn wir essen?” Gern, ich hatte heute noch nichts. Ergo gingen wir hochwärts und fanden direkt den Bus, der Essen verteilte. Ich zögerte, mich anzustellen, da ich nicht wirklich sprechen konnte. Und ich wollte nicht unhöflich sein. Aber die Dame kam mir entgegen: “Willst du auch was?”. Ich antwortete mit freudigem Nicken und bekam prompt eine Schale, nur den Löffel sollten wir zurückgeben, die werden gewaschen. Da standen wir also und aßen und.. das berührte meine Seele. Ich war unter Freunden, und obwohl wir alle ziemlich hart verschieden sind, so waren wir doch irgendwie alle gleich. Junge Dödel, die alle ihre Probleme hatten, auch ihre Macken und Kanten, und doch nette Menschis. Und wir waren gleichauf, auf Augenhöhe. Etwas, das ich in den “bürgerlichen Kreisen” schmerzlichst vermisse.

Wir gingen noch zu einer Bekannten, bei der mein Freund sein Zelt gelagert hat. Er verlor kürzlich seine Unterkunft und benötigt es nun, um “Platte zu machen”. Einen Ort hat er schon, nur eben sein Zelt noch nicht. Gemeinsam fuhren wir durch die Stadt, ich las noch etwas. Ich hatte keine Energie mehr, aber ich fühlte mich auch nicht unwohl. Die Bekannte war leider nicht da. Dann pennt er heute eben bei mir, mein Bett ist groß genug UwU.

Die Heimfahrt trat ich glücklicherweise mit dem Regio an, der deutlich leiser ist (wenngleich ebensogrell). Wieder las ich etwas, ich habe das Buch schon zur Hälfte durch (sind auch nur 350 Seiten). Dazu legte sich zu meinen Füßen noch ein Hund. Er sah total flauschig aus und schaute zu mir hoch. Ich zu ihm runter. So sahen wir uns eigentlich den Rest der Fahrt an, er war sehr an meiner Hose interessiert, die vermutlich nach nem Dutzend anderer Hunde roch. Gefühlt die Hälfte aller Straßenkinder hat nen Hund, daher bekomme ich regelmässig eine Dosis Hund auf den Schoß.

Nun bin ich daheim, allein. Ich bin total kaputt und genieße die Stille im Halbdunkel der dimmbaren Leuchte. Aber zuhause war ich vorher auch, da am Alex. Denn auch wenn’s sensorisch ein bisschen die Hölle war, so fühlte sich das Herz sehr sehr wohl. Und geschmeckt hat’s auch :)

January 11, 2023

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