Vorwort
Diese Geschichte ist genau so geschehen.
Der Gedanke kam mir gerade, als ich nach ausgiebigem Betrachten von Opossum-Memes die Springerstiefel schnürte, meine alte Kapuzenjacke habe ich schon an.
Wie viele Zukunftsvorstellungen hatte ich schon? So viele schöne, schwierige, anstregende und entspannte. So viele Möglichkeiten. Es gibt doch viel was ich eigentlich ganz gut kann und womit ich glücklich werden könnte. Aber eine nach der anderen wurde mir genommen und zerstört, löste sich vor meien Augen in Luft auf. Mal kommt mir das Vorstrafenregister in die Quere (Soziale Arbeit), mal weicht die Realität einfach zu stark vom Ideal ab (Polizei) und manchmal geht’s aufgrund meiner Behinderung wohl “eher nicht”, also ich werd dann einfach nicht genommen (Triebfahrzeugführerin). Ich weiß nicht ob es sich für mich lohnt, irgendwelche Ambitionen überhaupt zu verfolgen. Es sind immer schmerzhafte Enttäuschungen, für die ich nichts kann. Und das ist das schlimmste. Zu scheitern, das gehört zum Leben. Es gibt genug Dinge im Leben die passiert sind, weil ich’s verbockt habe. Aber die großen Ambitionen scheitern nicht an mir, denn ich suche sie ja schon passend zu meinen Interessen und Qualitäten aus.
Der Gedanke dieser Unfairness lässt mich die Stiefel eng schnüren, als Ausdruck von Wut. Mit jedem Überkreuzen der Schnürsenkel ein Stück enger, mein Unterschenkel fleht um Gnade. Ich setze mich auf. Dann führe ich den Gedanken weiter. Ist das ’ne böse Weltverschwörung gegen mich persönlich? Unwahrscheinlich. Es sind einfach ‘Menschen wie wir’, die hier keinen Platz haben. Ich bin ja nicht die erste. Und nicht die lezte. Obwohl ich noch drin bin, ziehe ich mir die Kapuze über den Kopf.
Meine Straßenschwestern, mit denen ich zusammen heranwuchs, sie hatten auch nie eine Chance. Das habe ich immer wieder mir ins Bewusstsein gerufen, jedes mal wenn ich um sie trauer. Alle drei starben einen vermeidbaren Tod, zwei davon einen äußerst brutalen durch eine andere Person. Die Ungerechtigkeit ihres Ablebens brannte sich in meinen Kopf. Die Kapuze schützt symbolisch. Zusammen mit der schwarzen Maske, den urbanen Farben der Jacke und Cargohose gehe ich unter im Dschungel der Stadt. Kein Gesicht, keine merklichen Bodyfeatures. Erkennbar als Person, aber nicht als viel mehr als das.
Was waren wohl ihre Ambitionen? Ich dachte sehr viel an die drei. Die Zeiten, die wir erlebten und all das. Aber noch kaum dachte ich daran, was aus ihnen geworden wär. Was sie hätten werden wollen. Und da trifft mich ein Zitat, das meine Mentorin Wakki zu mir sagte. Wir sprachen über Straßenprostitution, der sie nachgehen musste, und Alternativen dazu. Sie ist doch noch jung. Und ziemlich klug dazu. Sie ist besonnener als ich, raffinierter was Lügen angeht. Sie könnte in vielen Berufen Karriere machen. “Nein”, widersprach sie mir. Ich war etwas verblüfft, ja wollte sie denn nichts anderes machen, obwohl die ‘Arbeit’ sie zermürbte, sie sie nur mit exzessivem Drogenkonsum überhaupt aushalten konnte und sie wohl wusste, dass sie irgendwann nicht nur vergewaltigt sondern auch getötet werden wird? Sie erklärte mir: “Schon, aber es ist egal was ich will und kann. Sie werden mich nie was andres sein lassen als ne mittelklasse Hure.” Natürlich versuchte ich ihr das auszureden, auch mit Erfolg. Wir planten, anders irgendwie Geld zu verdienen. Sie wurde ermordet, bevor wir das umsetzen konnten. Auf der ‘Arbeit’. Ich dachte lange nicht über diesen Satz nach, bis heute. Wo auch ich mich frage: Was will ich, was kann ich.. und eben: was lässt die Gesellschaft mich überhaupt sein?
Schon oft dachte ich, es sei eine Art Fehler in der Matrix, dass ich noch lebe. Alle die ich liebte, alles was ich kannte, ist tot. Ich bin das Relikt aus einer kleinen Blase junger Vergangenheit, das sich plötzlich in einer Welt findet, die es als Rattenkind gebranntmarkt und verdammt hat. Eine Welt, in der die einzige Möglichkeit zum Überleben im Vortäuschen falscher Tatsachen, im Lügen besteht. Eine Welt, die so von Hass und Neid geprägt ist, dass ich vor jeder Person die nicht das selbe Brandmal trägt Angst haben muss. Eine Welt, die mir immer wieder ohne Grund, Not oder Erklärung Leid bereitet. Vom Kleinen bis zum Großen. Die mir immer wieder ins Gesicht schlägt und dann sagt: Na selber schuld, wenn du das Mal trägst und nicht gut genug versteckst! Wird die Gesellschaft mir je erlauben, einen erfüllenden Teil in ihr wahrzunehmen?
Oder hatten wir alle nie ne Chance?
Ich packe noch den Vodka und den Pfeffi ein, bevor es in die Welt hinaus geht, die mich am liebsten tot sehen würde. Wozu ich hinausgehe? Wer weiß das schon. Vielleicht auf der Suche nach einem Schlüssel, wie diese wirre und irre Gesellschaft tickt, nach dem Geheimrezept doch irgendwie akzeptiert zu werden von denen, die noch leben.