Vorwort
Diese Geschichte ist genau so geschehen. Diese politischen Gedanken spiegeln lediglich die Einstellung zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung und nicht unbedingt aktuelle politische Einstellungen der Autorin wider.
Es ist der zweite Mai heute, das heißt gestern war der Erste. Und was ist am Ersten? Tag der Arbeit. Oder Arbeiter:innen-Kampftag. Jedenfalls Maidemo. Die Maidemo steht in einer äußerst langen Tradition, war immer aufständisch motiviert und brachte uns nicht nur den 8-Stunden Tag mit ein sondern auch Dinge wie die Allgemeine Krankenversicherung. Ja, die Oberpickelhaube hat diese nicht aus reiner Wohltätigkeit eingeführt, sondern um die Wahrscheinlichkeit von Aufständen aus der Arbeiterschicht zu verringern.
Spätestens seit den Straßenschlachten im ausgehenden 20. Jahrhundert sind sie aber nicht nur aufständisch konnotiert, sondern werden vom Staat und rechten Medien dämonisiert. Proteste werden synonym als “Krawalle”, “Randale” oder “Ausschreitungen” bezeichnet. Das Polizeiaufgebot verstärkt, die Routen begrenzt und nicht selten die ganze Demo aufgelöst, was an der Eskalationsspirale schneller nicht drehen könnte. Als Gegenreaktion darauf formte sich einst der Schwarze Block: Genoss:innen und Gefährt:innen in schwer wiederzuerkennender Kleidung. Eine ähnliche Taktik wie die Polizei, die bekanntlich mit Sturmhauben und Uniform auffährt, um später nicht zur Rechenschaft gezogen werden zu können.
Die Propaganda funktionierte. Im Bürgerlichen Spektrum war die Maidemo (logischerweise) nie beliebt, doch auch in Arbeiterschichten und der Mischgesellschaft, in der wir dank Turbokapitalismus und Pseudomeritokratie mit zunehmender Individualisierung leben sahen viele nur noch das, was die (in Deutschland stark überwiegend konservativen und bürgerlichen) Medien ihnen servierten: Ausreden für Gewaltexzesse.
Das widerrum führte dazu, dass viele, die eine solche Ausrede brauchten, die Maidemos als ebendiese missbrauchten. Krawallmacher die mit linker Politik nicht viel am Hut haben aber einfach gern mal Stress machen wollen. Und der Schwarze Block ist ja eh voll cool, nech?
Diese Dynamik hat auch mich lange von der Maidemo ferngehalten. Aber gestern ging ich. Meine Bezugi (Bezugsgruppe; die Menschen mit denen du gemeinsam hingehst und gemeinsam wieder gehst, mensch passt aufeinander auf) zusammengesammelt. Bei der Kleidungswahl war Uneinigkeit. Gehen wir bunt oder im Schwarzen Block mit? Ich hatte keine geeigneten Schuhe (keine, die nicht mega auffallen), einer anderen fehlte es generell an Oberteilen und die Dritte hatte im Moment nur eine rote Jacke zur Verfügung. Na gut, wir gehen bunt.
Ich erwartete schlimmtes. Die Medienhetze lief schon auf hochtouren, über 5.000 Polizist:innen waren im Einsatz. Der Verfassungsschutz wurde viel zitiert, es werde Ausschreitungen geben und quasi Krieg. Nervös wollten wir die primären Kontrollen umgehen, denn auch wenn wir nichts verbotenes dabeihatten oder vorhatten sind Kontrollen nicht nur mega unangenehm sondern auch verängstigend, da sie enormes Eskalationspotential bieten. Also wenn geht lieber vermeiden.
Es ging, und wir stellten fest, dass zwar sehr sehr viel Polizei vor Ort war, diese aber größtenteils nur um die Auftaktkundgebung in Gruppen herumstanden. Zwei beobachteten von einem Fenster aus, die Lage war sehr entspannt. Wie jede Linke Demo begann auch die revolutionäre 1. Mai Demo etwa eine halbe Stunde zu spät.
Die Route
Die Route führte vom Herzbergplatz via Sonnenallee und schließlich zum Oranienplatz hinterm Kottbusser Tor. So weit, so straight. Aber nein, das führte sie nicht. Der Bezirk hat nach Anmeldung der Route plötzlich “Straßenfeste” organisiert. Am ersten Mai. Inmitten der Route. Uns wurde also eine Ausweichroute aufgezwungen, die durch kleine Nebenstraßen führt und diese “Straßenfeste” umgeht. De facto fanden diese Straßenfeste nicht statt, aber mit der neuen Route gab es ein neues Problem und neue Befürchtungen. Die Sonnenallee ist sehr groß. Vier Spuren plus Parkspur plus Mittelgrün. Es bildet sich also eine breite Masse, die sich bewegt, die dann plötzlich rechts abbiegt und sich in ihrer Breite halbieren muss. Zwangsläufig wird es da eng und viele, inkl. der Veranstalter:innen, befürchteten das sei Absicht und der Punkt, an dem die Polizei Krawalle startet. Schließlich läuft diese an den Seiten mit, Körperkontakt an so einem Choke-Point fast unausweichlich und dann eskaliert es. Als wir diesen Abbiegepunkt erreichten, waren wir auf high alert. Schon kurz zuvor preschten Bullen plötzlich in unsere Demo. Angeblich soll ein Mensch eine Rauchfackel einem Bullen an den Helm geworfen haben. Ob das stimmt weiß ich nicht. Was ich weiß ist, dass plötzlich 20 Bullen mit voller Wucht in den recht friedlichen Schwarzen Block preschten und dabei einige Menschen verletzt wurden. Der Zug hielt kurz an, bis die Situation sich wieder entspannte. Zwei Menschis aus unserer Bezugi spalteten sich ab, zu dritt ging es weiter. Unbeabsichtigt standen wir nun im Schwarzen Block und näherten uns der Biegung. Es staute und stockte wie erwartet, doch die Gewalt blieb aus. Die kleinen Nebenstraßen waren dekoriert, Anwohner:innen hängten Schilder und Flaggen von ihren Fenstern und Balkonen. Anarchismus, Antikapitalismus, Antifa. In den Cafés an denen wir vorbeigingen saßen Leute sogar draußen, von einer Reihe mitlaufender Cops von uns “abgeschirmt” Sie jubelten uns zu und riefen die Parolen mit, was mir große Freude bereitete.
Immer wieder wurde es etwas unruhig, als Menschen plötzlich zu rennen begannen. Schließen die nur auf oder gibt es wieder eine Bullenattacke? Es war jedes mal nur Aufschließen, was das Rennen sogar ganz lustig machte. Zumal das Mitrennen der Cops laut von der Menge kommentiert wurde:
“Hopp, Hopp, Schweine im Galopp!”
Die Beiträge
Für oder gegen was wird jetzt eigentlich demonstriert? Das Motto war: “No war but class war.” Antikrieg und Klassenkampf, keine schlechte Basis. Ich befürchtete aber, dass es dieses auch in linken Kreisen beliebte “Mimimi NATO ist doof und am Ukrainekrieg schuld” werden könnte. Wurde es zum Glück nicht. Angeführt wurden vielmehr die systemischen Ursachen solcher Kriege. Wie ein globaler Kapitalismus die Nationalstaaten in einen Konkurrenzkampf zwingt, der Imperialismus und Neokolonialismus den Teppich ausrollt. Vernünftig.
Auch um die geplante Bullenwache am Kottbusser Tor ging es. Das Kotti ist bekannt als ein Ort hoher Kriminalität, aus bürgerlicher Sicht macht es also augenscheinlich Sinn da einfach ne Bullenwache reinzuklatschen und dann gibts bestimmt weniger. Oder? Nö.
Es wird nur mehr Gewalt geben. Gewalt von Bullen gegen die vermeintlich Kriminellen (i.e. viele Kontrollen von PoC ohne Verdacht oder von “jungen Männern” oder “linken Zecken”) und Gewalt der tatsächlichen Kriminellen, die hinter z.B. Drogendistributionsnetzen stehen. Dazu gab es am Vortag schon eine Demo, bei der aufgezeigt wurde, wer die Menschen am Kotti sind und warum sie teilweise zur Kriminalität getrieben werden. Selbst wenn die Kriminalität (und gemeint ist damit vor allem Drogenhandel und Taschendiebstahl) am Kotti abnehmen würde, würde sie sich bestenfalls verlagern. Denn die Ursachen werden mal wieder nicht bekämpft. Nur der Teil, der einer mehrheitlich weißen bürgerlichen Gesellschaft unangenehm sein könnte. Ergo: Keine Bullenwache am Kotti!
Allgemein fand ich die Beiträge gut geschrieben. Kämpferisch, aber nicht unnötigerweise feindseelig oder aufgeblasen.
The End
So erreichten wir ohne weitere Zwischenfälle den Oranienplatz. Die Dunkelheit brach bereits herein. Da ich nochmal kurz Strullern war, haben wir den Anarchistischen Block verloren und schritten schnell an dem MLPD-Block vorbei in der Hoffnung aufzuschließen. Letztlich waren wir aber auch geschafft, waren wir doch schon einige Stunden am Marschieren und die Nacht zuvor wurde fast durchgezecht. So saßen wir uns etwas an den Rand und gönnten uns ein Bierchen. Keine Sekunde zu früh. Wir beobachteten einen Keil von Polizist:innen, die in die Menge stürmten. Viele Menschen wurden leicht verletzt. Einer ging zu Boden und schrie “PRESS! PRESS!” während ein Polizist auf ihn einschlug. Genoss.innen haben ihn dann von den Cops weggezogen und in unsere Richtung gebracht, er blutete recht stark. Mit Wasser wurden die Wunden ausgespült, die Demo-Sanis kamen kurz darauf an und versorgten den armen Kerl. Ab diesem Zeitpunkt kippte die Stimmung langsam. Immer wieder schlugen Cops in die Menge, zurück flogen Flaschen. Meine Bezugi wollte “Dabeisein”, aber ich nicht. Erst ließ ich mich darauf ein, wir bildeten Kette und verteidigten den Lauti (Lautsprecherwagen), oder hatten es zumindest vor. Ich meinte zu den anderen, mit Blick auf die Cops vor uns: “Ihr wisst, was jetzt gleich passiert, oder?” und da hatten sie dann doch nicht mehr so viel Lust, einen Schlagstock ins Gesicht zu kriegen. Phew. Also raus da und gen Heimat.
Fazit
Wie fand ich diese 1. Mai Demo? Prinzipiell gut. Anfangs wars etwas.. langsam, aber die Stimmung baute sich allmählich auf und blieb bis zum Schluss auch gut. Die enorme Friedlichkeit lässt sich gar nicht überschätzen. Bei über 10.000 Demonstrierenden gab es selbst durch die Bullen nur 30 Festnahmen. Denen muss ich auch zugestehen, dass bis zum Schluss von ihrer Seite keine größeren Eskalationsversuche ausgingen. Natürlich bleibt die grundsätzliche Frage: Ist das gut? Eine friedliche 1. Mai Demo? Gewalt finden wir alle scheiße, also ja schon. Aber die 1. Mai Demo war auch immer eine Machtdemonstration gegenüber der Obrigkeit, die das Potential eines Aufstandes oder Generalstreiks darstellen sollte. Jetzt waren wir halt nur Dödels, die den Sonntagnachmittag spazieren waren, könnte mensch zynisch sagen. Generalstreiks und Aufstände sind in Deutschland ja auch verboten. Wo kämen wir denn sonst auch hin, zu einer allgemeinen Krankenversicherung?! Ist die Demo also gescheitert, weil wir dieses Bedrohungslevel nicht mehr aufbauen konnten? Ich meine nein. Denn auch wenn dieser Weg heutzutage verunmöglicht erscheint, taten sich andere an anderer Stelle auf: Massenmedien und das Internet erlauben eine Kommunikation deutlich über die Demogrenzen hinaus. PR ist also irgendwie wichtig. Und auch wenn sich bestimmte rechtskonservative Medien wie die WELT jetzt wieder den Thesaurus auspacken um zu gucken wie sie Wörter wie “Ausschreitungen” et cetera einbringen können, wenn es um eine verdammt friedliche Demo geht, so gibt es ebendiese zehntausende Teilnehmer:innen, die ihrerseits erzählen, was geschah. Durch hunderte Smartphones, die natürlich auch oft kritisch gesehen werden, entstehen Bilderstreams der gesamten Demo - und auch wie unvermittelt manchmal die Polizei zuschlägt und Menschen “überrascht” und verletzt.
Diese Demo war ein Meilenstein, meine ich, denn sie verlief ganz ohne Randale, ohne deswegen weniger kämpferisch zu sein. In kurzen und knackigen Beiträgen wurden unsere Problemanalysen vorgestellt, die Forderungen gestellt. Eine kompromisslose Anschlussfähigkeit herzustellen, das ist ein Pfad den ich sehr begrüße. Keine inhaltliche Anpassung an das Bürgertum. Aber die Straße zum Linksradikalismus soll eine breite sein.