Anarchist Angel's Gedankenwelt

Tagebuch: Neulich im Großstadtrevier

Vorwort

Diese Geschichte ist genau so geschehen. Sie stellt den Beginn eines jahrelangen Rechtsstreits mit der Bundespolizei, der tausende Euro kosten sollte, und einen wesentlichen Motivator für meine politische Bildung und damit einhergehende “Radikalisierung” dar.


Es ist der erste Apri 2021, ein Tag bekannt für seine vielen Scherze, Streiche und Spielereien. Doch mir ist nicht danach. Schon seit Tagen habe ich ein seltsames Gefühl. Etwas wird passieren. Das belastet mich. Um meinen Kopf freizukriegen, gehe ich etwas Streunen. Streunen, das heißt durch die Stadt wandern und sehen, was so los ist. Mich mit Menschen unterhalten oder sonstwie mit ihnen interagieren. Manchmal unterhalte ich mich mit Coronaleugnern, manchmal helfe ich Touristen den Weg durch Berlin zu finden, manchmal helfe ich Menschen schwere Dinge zu tragen und manchmal unterhalte ich mich einfach mit anderen, die ebenso betrunken auf einer Parkbank sitzen oder liegen. Alkohol gehört zu diesem Ritual dazu, nicht bis zur Besinnungslosigkeit aber gut einen Sitzen darf mensch schon haben. Außerdem wollte ein Freund meine Softair sehen, welche ich für ein Cosplay vor langer Zeit mir angeschafft hatte. Zusätzlich zur normalen Streuner-Ausrüstung (Verbandskasten, Nähzeug, Outdoormesser, mein Kit, eine Stoff- und eine OP-Maske) trage ich diese also auch mit mir rum, natürlich verschlossen im Rucksack.

Die Stunden ziehen ins Land, ich habe noch nichts gegessen. Schon den zweiten Tag. Zeit, nach Haus zu gehen. Diesmal aber gibt’s Falafel, sage ich mir. Doch es wird 23:30 Uhr bis sich die Gruppe langsam auflöst und ich sitze schon wieder in der U-Bahn, auf deren Boden, und unterhalte mich noch mit zweien. Ein Bürgi (“bürgerlicher”, quasi die Antithese zum Punk) hatte sich zu uns gesellt und sich etwas mit uns unterhalten, auch er fährt mit. Wir steigen auf die S-Bahn am Alex um, fahren bis zum Hauptbahnhof. Da gilt es endlich, Essen zu fassen. Ich wollte nämlich Fish’n’Chips. Hatten aber zu. Nur noch McDonald’s hatte offen. Würgs. Aber der Hunger treibt’s rein. Während wir durch den Hbf laufen und noch andere offene Läden suchen, meinte er plötzlich zu mir:

“Wenn die Polizei dich durchsucht oder so, bin ich aber weg.”

Seltsam, das zu sagen, denk ich mir. Und irgendwie asozial. Aber ich winke ab, die werden mich schon nicht durchsuchen und wenn hab ich nix verbotenes dabei. Er gibt mir drei Euro. Fast genug für ne große Pommes. Während ich anstehe, schaue ich immer mal wieder hinter mich, er wartet draußen. Plötzlich ist er weg. Ich sehe ihn nicht mehr. Ist er jetzt einfach gegangen? Ich erhalte meine Fritten, drehe mich um und da ist er wieder, auf mich wartend. Wir unterhalten uns noch während ich esse über Wissenschaftsphilosophie, Epistemiologie und dergleichen. Das war kein Sarkasmus. Seine Bahn fährt, 20 Minuten vor meiner. Wir verabschieden uns und er fährt von dannen. Da sehe ich plötzlich einen Regio auf dem anderen Bahnsteig.

Mit dem Regio wäre ich fast eine Stunde schneller zuhause. Und ich bin, verzeiht, sackmüde. Also losgesprintet, Rolltreppe runter, Rolltreppe rauf. Doch die Tür ist zu. Der TF schaut mich ausdruckslos an, lässt die Türen aber verriegelt. Machtlos seinem Spiel ausgeliefert hebe ich die Schultern und die Handflächen “Ach komm schon” soll das heißen. Der Zug bleibt stehen, die Türen geschlossen. Trotz rotem Signal. Gut zwanzig Sekunden später fährt er ab. Arschloch.

Frustriert gehe ich also zurück zum S-Bahnsteig. Mir kommen sechs Polizeibeamt:innen entgegen. Ich fahre die Rolltreppe hoch. Die Polizist:innen auch. Ich ahne: jetzt passiert etwas. Mein Herz rast. Aber wo soll ich hin? Die Rolltreppe führt direkt in eine Sackgasse, ans Bahnsteigende. Ich versuche direkt weiterzugehen, da ertönt ein vielsagendes “Guten Abend”. Das war der Wortlaut, doch ich hörte eher ein “Jetzt kriegen wir dich!”

Ich wende mich ihnen zu. Sie stehen im Halbkreis um mich herum, mich abschirmend. Einige haben ihre Waffe in der Hand. Nicht gezogen, aber der Holster ist offen und ihre Hand umklammert den Pistolengriff. “Sie tragen die falsche Maske.”, sagt einer. Die falsche Maske? April April? Doch es stimmt, er erläutert: “Seit heute ist FFP2 Pflicht.” Ich hoffe, mich herauswinden zu können. Denn ich hatte tatsächlich eine FFP2 in meinen Rucksack gepackt, damit ich sie nicht vergesse. Aber ich habe an dem Tag einfach vergessen, dass diese neue Pflicht gilt. Damit war ich nicht allein: am Bahnsteig standen auch noch andere, teils gänzlich ohne Maske. Also schnell die FFP2 anlegen, dann lassen sie dich vielleicht springen, hoffe ich. Falsch gehofft.

Ich erkläre, dass ich schnell die andere aufziehen werde, und nehme den Rucksack ab. Ich öffne die Klappe, doch bevor ich hineingreifen kann, schreit ein Beamter: “Finger weg vom Rucksack!”. Verwirrt schaue ich ihn an. Er fragt mich nach meinem Namen. Ich solle ihn sagen, oder ich müsse mitkommen. Ich sage ihm meinen Namen.

“Dann kommen Sie mal mit.”

Wie war das mit ‘oder’? Das Herz springt mir fast aus der Brust, adé Freiheit, ab jetzt bin ich Gefangene des Systems, der Willkür ausgeliefert. Sie begleiten mich zur Wache, der Vorgang wird süffisant erklärt: “Da Sie jetzt bei uns sind, müssen wir Sie zur Eigensicherung durchsuchen.” Ist klar. Die Maske war nur Vorwand. Ich kooperiere, habe ja keine Wahl. “Konsumieren Sie Betäubungsmittel?” - “Nur Alkohol.” Er nickt, zieht kurz darauf mein Kit aus der Tasche. Er schaut hinein: kleingeschnittene Zigarettenfilter, eine Teelichtschale, eine Büroklammer und zwei Spritzen. “Jetzt glaube ich Ihnen das nicht mehr. Zeigen Sie mir ihre Arme.” Meine Arme? Vergiss es. Mein Körper gehört mir. Doch die Aufforderung machte mir etwas Hoffnung. Denn sie zeigte Unwissen. Es ist ein Klischee, sich Drogen in die Arme zu jagen, aber aus vielen Gründen ist das nicht so häufig wie mensch denkt. Einstichstellen sollten rotiert werden, um den Blutgefäßen Zeit zur Heilung zu geben. Am häufigsten wird meiner Erfahrung nach eher in Beine injiziert, gerade weil es da auch weniger sichtbar ist. Das Gefühl, einem totalitären und gewaltvollen, omnipotenten und gnadenlosen System ausgeliefert zu sein, änderte sich also. Ich bin einem totalirätren, gewaltvollen und gnadenlosem System ausgeliefert. Es ist nicht fehlerfrei. Nicht omnipotent.

So finde ich neuen Mut, erkläre, dass dies keine rechtmässige Aufforderung ist. Ich werde durchsucht, aber sogenannte illegale Betäubungsmittel (Gut, im Falle Heroin wäre die Bezeichnung durchaus zutreffend..) werden nicht gefunden. Darauf trinke ich erstmal einen Schluck Schnaps. Des weiteren stört er sich an meinem Messer. Ich erkläre: Werkzeug, keine Waffe nach Anlage 1 Blatt 1 WaffG. Außerdem nicht vom erweiterten Führungsverbot gefährlicher Gegenstände nach Paragraph 42a Absatz 1 Nummer Zwei und Drei betroffen, ebenfalls Waffengesetz. Sie sind überrascht, aber noch zuversichtlich. Sie hätten einen Waffenexperten zufällig im Haus. Der erklärt mir, es handle sich um ein “Kampfmesser”, was mir einen Lacher entlockt. Die Klinge mag relativ groß sein, aber nicht zu groß. Außerdem ist es einseitig geschliffen und hat eine dicke Backe. Damit zu kämpfen mag theoretisch möglich sein, ein Obstmesser wäre wegen der schmaleren Backe aber deutlich gefährlicher.

Wenn er einen Dummy hat, kann er ja auf den mal damit einstechen und sehen wie schwer das geht, meine ich zu ihm. Er deutet auf einen anderen Polizisten und meint, den Praktikant könne mensch ja herbeiziehen. Fand er wohl als einziger lustig. Ich beäuge den ‘Praktikant’. Ein junger Mensch, vielleicht sehr idealistisch. Mir fällt nur eins ein, das ich ihm sagen könnte: “Schäm dich.” Er weiß, warum.

Der andere bespricht sich derweil bezüglich des Messers mit einem Kollegen und wendet sich dann wieder an mich. Er werde das prüfen, meint er. Und er kommt auch wieder und erklärt: “Sie haben Recht.” Grins. Weiterhin wird mein Rucksack durchwühlt. Nähzeug, noch ein ACAB Aufnäher, der noch nirgends angebracht ist. Sympathiepunkte sammle ich nicht unbedingt, aber die bei mir ja auch nicht. Ein wenig grinsen muss ich wieder, doch es vergeht mir, als er plötzlich die Softair in den Händen hält.

“Jetzt haben wir ein Problem.”

Meine Kenntnisse des Waffenrechts sind diesbezüglich nicht so solide wie die des Messers. Das war das erste mal, dass ich die Softair überhaupt außer Haus getragen habe. Ich weiß es gibt ein Führungsverbot von Anscheinwaffen, und genau darauf will der Beamte auch direkt hinaus. Es gibt aber einen Unterschied zwischen “Führen” und “Transportieren”. Softairs dürfen transportiert, aber nicht geführt werden. Ich trug sie nicht am Gurt oder sonstwie Zugriffsbereit. Selbst der Beamte konnte sie erst nach einigem Wühlen in meinem Rucksack in der dafür vorgesehenen Tasche welche doppelt verschnürt war finden. Von “Führen” kann also keine Rede sein, ich stelle ihn immer wieder richtig wenn er diesen Begriff versucht zu verwenden. Er telefoniert, macht irgendwem Meldung. Spricht von einer Gaspistole. Beim nächsten Mal spricht er von einer Schreckschusswaffe. Da falle ich ihm ins Wort. “So ungern ich dir ins Wort falle, aber das ist keine Schreckschusswaffe. Das ist eine Softair.” Doch ich habe weiterhin Angst. Ich antworte souverän, rechtssicher, verneine alles. Ich stimme keiner Maßnahme zu. Ich stimme keiner Maßnahme zu. Dieses Mantra wiederhole ich jedes mal, wenn eine neue Maßnahme mir angekündigt oder angedroht wird.

“Ich weiß, deswegen rotier ich hier so.”

Meint er genervt. Gut. Die Situation soll nicht nur mir unangenehm sein. Ich muss warten. Viel warten. Eingesperrt. Mein Handy darf ich behalten, ich rufe also meinen besten Freund an. “Hey, ich sitz bei den Bullen.” mein ich flapsig. Ein indirektes “Hilf mir.”. Er ist für mich da. Wir reden über dies und das. Scherzen auch. Mein Krisenhumor ist erfahrungsbedingt stark ausgeprägt. Ich erzählte ihm vom Telefonat des Cops, und dass ich Sorge hätte er behaupte beim nächsten mal ich hätte einen Raketenwerfer im Rucksack gehabt. Wir schmunzeln. Mir fällt auf, dass einer der Polizisten eine äußerliche Ähnlichkeit mit Rick Harrison von “Pawn Stars” hat. Zumindest kam es mir so vor, ich erzähle ihm also das, und dass ich erwarte dass er gleich den Flur entlanggerannt kommt und schreit “CHUMLEE! CHUMLEE!!!” Wir lachen. Der Polizist, der mich bewachen muss, findet es nicht lustig:

“Aber sonst gehts noch? Sind Sie ein bisschen blöde?”

Fragt er mich ernsthaft. Hauptsache Gesiezt, hm? Das lasse ich nicht auf mir sitzen und meine: “Nein, sonst wär ich bei der Polizei.” Der hat gesessen, er sagt nichts mehr. Der Bad Cop wird gegen die Good Cop ausgetauscht. Sie ist echt nett. Aber ich weiß, dass diese Nettigkeit reine Taktik ist um mich weichzukriegen. Das blöde? Sowas zieht bei mir. Ich kann nicht arschig zu Menschen sein, die nett zu mir sind, auch wenn sie es nur oberflächlich aus taktischen Gründen sind. Good Cop ist meine Schwachstelle. Weil ich also das Schweigen nicht aushalte, drehe ich den Spieß um: Ich flirte mit ihr. Offensiv. Nicht anzüglich, aber offensiv. Sie fragt mich nach Tattoos und Piercings. Ich meine, das ist eine Frage für ein Privatgespräch. Sie erwidert, das sei jetzt doch quasi privat, sie sei ja allein mit mir im Raum.

“Solange du in Uniform an einem Schreibtisch sitzt und ich hier gewaltsam festgehalten werde ist das kein Privatgespräch. Aber zieh die Uniform aus und wir setzen uns draußen auf eine Bank, dann erzähl ich dir gern von meinem Leben.”

Die Masche zieht also doch nicht so bei mir. Auch ‘der Praktikant’ wird nochmal reingeschickt, kurzzeitig allein. Ich nutze die Chance: “Ich weiß, du tust das, weil du glaubst hier Menschen zu helfen. Aber das tun sie nicht. Schau sie dir doch mal an, wem hilft das hier? Wir beide wissen, warum sie mich ausgewählt haben zur Kontrolle, und warum sie jetzt alle hier sind und die anderen nicht auch kontrollieren. Wie gesagt, du bist überzeugt, hier das richtige zu tun. Aber irgendwann kommen die Zweifel. Und dann hör auf sie.” Was ich da sage, das ist keine Zermürbungstaktik. Er ist eh nur Zuschauer des ganzen Spektakels. Er antwortet mir auch nicht, unsicher ob er das überhaupt darf ohne Sternchen auf den Schultern. Ich sage ihm das, weil ich für ihn noch ehrliche Hoffnung habe. Dass er erkennt, was für ein Misthaufen die Polizei ist.

Der Big Boss kommt wieder herein. Zu erkennen daran, dass er keine Jacke trägt sondern die Weste über dem Hemd. Und an den zu-vielen-Sternchen auf der Schulter, die scheinbar keinen Platz mehr fanden und sich quetschten. Er erklärt mir, dass ich eine Strafanzeige bekäme. Das sei eine Straftat, dass ich die Softair mit mir “führte”. Ich widerspreche bei dem Begriff wieder und korrigiere auf “transportieren”.

Es ist Zeit, Fotos zu machen. Erkennungsdienstliche Behandlung, die Lieblingsschikane der Großstadtcops. Ich nehme die Situation locker, Wahl habe ich keine. Mir fällt auf, dass einer der Cops die Maske falsch trägt. Der, der mich blöde nannte. “Die Maske muss über die Nase”, erinnere ich ihn, “sonst wirst du noch kontrolliert, mitgenommen, durchsucht und festgehalten.” Das wollen wir ja nicht. Seine Kolleginnen schmunzeln, er wird wütend.

“Fürs Protokoll, die Maske sitzt jetzt richtig.”

Versucht er sich wohl an Humor, doch seine schlechte Laune ist zu deutlich hörbar als dass es irgendwer lustig fände. Die Fotos werden geknipst. Frontal, schräg, seitlich. Mal hier mal da, ach ne jetzt ist der Tisch im Hintergrund, ein bisschen nach links, ein bisschen den Stuhl nach rechts, jetzt einmal hier nebst der Messlatte.. Die Fotos sind gut. “Krieg ich die? Die machen sich gut auf dem Tinderprofil.” frage ich. Nein, ich kriege sie nicht. Schade, denn das mit dem Tinderprofil war ernst.

Für die Fingerabdrücke brauchen wir mehrere Versuche, aber mit gemeinsamer Anstrengung schaffen wir es dann doch irgendwann. Nun heißt es wieder warten. Ich schau meinen Rucksack an, die Nähsachen liegen oben. Also beginne ich zu nähen. Den Sophie-Scholl-Aufnäher? Den Nur-Tote-Fische-Schwimmen-Mit-Dem-Strom-Aufnäher? Oder… Ich grinse. Ja. Der wird es. Stecknadeln rein und losgenäht. Ich schaffe nur ein paar Stiche und ein Foto um den Moment festzuhalten, da kommt Rick Harrison in Polizistenform in den Raum. Er brüllt mich an.

“AUF DEN BODEN! AUF DEN BODEN!”

Ich halte Nadel und Faden in der Hand, ruhig auf der Bank sitzend und ihn verwirrt anschauend. Wie? “DIE NADEL AUF DEN BODEN!” Die Nadel? Die Nadel, die bei der Durchsuchung bereits als ungefährlich eingestuft wurde? Die Nähnadel? Diese Nadel? Ich erkläre: “Die hängt an einem Faden, und ihr habt mir mein Messer zum Durchschneiden abgenommen also kann ich sie nicht auf den Boden legen.” - “SOFORT DIE NADEL AUF DEN BODEN, JETZT!” Er hat die Hand an seiner Waffe. Ich bleibe äußerlich ganz ruhig, aber verstehe die Situation nicht. Nähen ist weder illegal noch gefährlich. Seiner Aufforderung kann ich physikalisch nur nachkommen, wenn ich jetzt ruckartig an der Nadel reiße und den Faden zerreiße. Ich habe fürchterliche Angst um mein Leben. Ich bin in einer paradoxen Situation, inder ich selbst nichts tun kann aber am Ende sowohl die negativen Konsequenzen als auch das Schuldurteil ertragen muss. Ich schaffe es jedoch, ich weiß nicht wie, den Faden auszufädeln und lege die Nadel auf den Boden. Er tritt darauf und zieht sie zu sich. Ich schaue ihn verwirrt an. “Und die Stecknadeln willst jetzt auch noch, oder?” Stecknadeln sind weder mehr noch minder gefährlich als Nähnadeln. Ich ziehe sie also heraus und stecke sie in das Nadelkissen, will es ihm reichen.

“Her damit!”

Brüllt er und will es mir aus der Hand reißen. Ich ziehe die Hand und das Nadelkissen zurück, instinktiv. Ich schaue ihn nicht an, meine eindringlich: “Bitte.” als Erinnerung daran, dass er mich einfach freundlich hätte bitten können. Ich lasse mir das Kissen abnehmen.

“Wenn ich noch ein mal eine Nadel sehe!”

Problem: Ich habe noch ein ganzes Nadelset, aus dem die einzelne Nähnadel stammt. Erwähne ich das jetzt? Oder verstecke ich es? Ich erwähne es, er greift danach. Gewaltsam in seiner ganzen Art. Den Schnaps haben sie mir abgenommen. Aber ich könnte jetzt einen Schluck vertragen, verdammt.

Immer wieder werde ich gedrängt, Dinge zu unterschreiben. Es gibt aber keine Verpflichtung, etwas zu unterschreiben. Das wäre auch blöd, denn nach dem nächtlichen Schlafentzug, der Alkoholisierung und den traumatisierenden Vorgängen bin ich sicher nicht mehr in der Lage, alles genau zu verstehen, was mir da an Dokumenten vorgesetzt wird. Ich verweigere jedes mal, bekomme keines der Dokumente zum Durchlesen. Schließlich kommen nochmal alle Beamte zu mir. Nahezu einfühlsam fragt mich der Big Boss:

“Was ist denn jetzt mit dem Aufnäher?”

Er meint den “ACAB”-Aufnäher auf meiner Brust. Ich bin wieder verwirrt. “Was soll damit sein? Glaubt ihr, nach der Aktion seh ich das jetzt irgendwie anders?” frage ich nach. Seine Stimmung schlägt um.

“Entweder machen Sie den runter, oder ich beschlagnahme die Jacke.”

“Auf welcher Rechtsgrundlage?” hake ich nach. Fünf Stunden Gewahrsam und Verhör habe ich schon hinter mir. Ich werde nicht mürbe. Er meint irgendwas von wegen Störung der Öffentlichkeit. Ich gebe ihm einen vielsagenden Blick. “Außerdem habe ich kein Messer mehr, mit dem ich die Fäden auftrennen könnte. Das habt ihr mir abgenommen, schon vergessen?”

“Dann beschlagnahme ich jetzt die Jacke.”

“Nein!”

Meine Jacke ist meine einzige Jacke. Es ist kalt draußen, 4°C. Außerdem bedeutet sie mir viel. Ich bin verzweifelt, wiederhole mich: “Ich kann den Aufnäher ja nichtmal runtermachen, weil ich die Fäden nicht abtrennen kann!” Da hält mir einer sein Messer hin. ‘BUND’ steht auf der Klinge. Ich zögere. Ist das eine Falle? Gut verständlich erkläre ich: “Ich werde jetzt nicht mit dem Messer auf euch einstechen..” und greife danach. Niemand schlägt mich. Ich will gerade die Fäden damit auftrennen, da greift einer die Jacke. Und den halb aufgenähten anderen ACAB Aufnäher. Er reißt ihn gewaltsam ab. “He!” rufe ich, als ich mich wegen der ruckartigen Bewegung fast mit dem Messer schneide. Die BeamtInnen schauen auf mich herab, doch schweigen sie, erwartungsvoll.

Ich kann gehen, wenn der Aufnäher runter ist.

Es ist nach vier Uhr morgens. Ich gebe nach. Faden für Faden löse ich und gebe das Messer zurück. Ich notiere mir noch die Asservatennummern der beschlagnahmten Gegenstände (Messer und Softair) und der Good Cop reiche ich meine Telefonnummer. Ein letzter Scherz, sie möge mir doch schreiben.

Dann öffneten sie mir die Tür.

April 6, 2021

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